Allgemeines

Es ist natürlich gut, vorab informiert zu sein um nicht unter dem Regenschirm mühsam aufs Mobiltelefon einhämmern oder gar in einem Programmheftchen blättern zu müssen: Besonders bei der "Winterreise" hat es sich erwiesen, dass "uriges" Wetter (Kälte, Schneefall, leichter Regen) die Stimmung belebt, ja direkt aufwühlt. Zudem sind unter diesen Bedingungen kaum Passanten und Zaungäste unterwegs: Es kehrt Stille ein. (Eine der spannendsten Vorstellungen fand bei Hagelschlag statt.) Zunächst zum grundsätzlichen Hintergrund aller unserer Aufführungen:


Aus Meyer's neues Konversations-Lexikon, Hildburghausen, 1865:
“Kunst, von können, bedeutet, ganz allgemein gefaßt, die Fähigkeit, etwas zu schaffen oder zu gestalten. [...] Hierher gehören alle auf körperlicher Geschicklichkeit, mechanischer Übung und praktischer Erfahrung beruhenden Künste, wie Gymnastik, Reitkunst; jedoch ist zu bemerken, daß in dieser Verbindung der Ausdruck K. oft gemißbraucht wird, wie sich denn jeder Taschenspieler und Seiltänzer einen Künstler nennt u. man auch von Kochkunst, Rechenkunst etc. spricht. [...] Die Kunst im engsten und eigentlichsten Sinne hat es dagegen vornehmlich und ausschließlich mit der schönen Form als Zweck zu thun, während die praktische Brauchbarkeit ihres Produkts, wie z.B. der Baukunst, erst in zweiter Reihe in Betracht kommt. Je höher daher ein Kunstgebiet steht, desto mehr entzieht es sich der praktischen Verwendung [...]. In diesem höchsten und eigentlichsten Sinne ist K. nur die für die sinnliche Wahrnehmung in die Erscheinung tretende Darstellung des Schönen schlechthin; ihre Stellung im Organismus des Geistes, sowie ihre Gliederung zu einzelnen Künsten [...] beruht also auf der Begriffsbestimmung des Schönen.


Schönheit
(von Scheinen) ist ihrem Wesen nach das Hindurchscheinen der Idee durch den Stoff. Daher muß es die Kunst nie auf Naturtäuschung, sondern nur auf künstlerische Illusion absehen: der Beschauer muß wissen und auch nicht versucht werden, sich darüber zu täuschen, daß er als Stoff etwas Todtes vor sich habe, das aber durch die künstlerische Idee beseelt wird und ein höheres Leben erhält. Neben dem Ausdruck "nützliche Künste", worunter man Fertigkeiten zu praktischen Zwecken versteht, braucht man noch andere Ausdrücke, wie "brodlose Künste", womit das Gegentheil der ebengenannten bezeichnet werden soll, und "freie Künste", was im Grunde dasselbe ist... [...]
Das Schöne, das Wahre und das Gute sind drei in der Form verschiedene Bezeichnungen des Vernünftigen: das Wahre ist das Vernünftige des Gedankens (die Wissenschaft), das Gute ist das Vernünftige des Willens (die Sittlichkeit), das Schöne ist das Vernünftige der Phantasie (die Kunst). So steht also die Kunst zunächst der Wissenschaft und der Sittlichkeit gegenüber. Was der denkende Mensch als Wahres erforscht, der sittliche als Gutes fühlt, das schaut der künstlerische als Schönes in seiner Phantasie an."
(Soweit Meyer's neues Konversations-Lexikon, Hildburghausen, 1865.)
Der Auftritt des Sängers in seiner geliebten Geburtsstadt bekommt mit der Atemluftheizung unfreiwillig auch den Charakter einer Katastrophenschutzübung. Und tatsächlich ist die Kultur ja auch zum Katastrophenfall verkommen: nach der zeitgenössischen, nun auch die klassische Musik: Wahrscheinlich sind wir die letzte Generation, welche die Sprache von Tonhöhen -wenn auch nur ansatzweise- noch verstehen kann. Künftighin ersetzen Sound-Design und Videoclips die akademischen Gesetze der Musiktheorie. Menschliche Rührung? Reinigung der Seele vermittels der Tonkunst?- lächerlich. Was man jetzt noch "ernste Musik" nennt, wird bald eine vergessene Sprache sein: wie das Altgriechische. Die Werbung hat die gesellschaftliche Funktion der Kunst lange übernommen; Wirtschaft und Politik berauben den Menschen nach und nach seiner Seele: als Konsument ist sein Abbild vom "Ebenbild Gottes" inzwischen zum Genschwein geworden.
Die Werbung für ein gesellschaftliches Ereignis -welches als Kunst verstanden wird- ist auch wichtiger, als dessen schöpferischer Gehalt. Durch das Sponsorentum steht als wichtigste Aussage im Hintergrund: Erstens: Der Künstler identifiziert sich mit seinem Geldgeber. Er leiht ihm sein Gesicht. Zweitens: Kauft bei meinem Sponsor, damit sich die Sache auch rechnet! Wer als einzelner Künstler dabei nicht mithalten kann, verschwindet ganz einfach aus der Öffentlichkeit. (Selbst, wenn er kostenlos die größte Freiluftbühne der Welt anzubieten hat…)
“Wir sind die letzte Generation, welche die Sprache von Tonhöhen noch verstehen kann..”: ist das zu provokant? Erstens: Konsequent ersetzen Sound- Design und Videoclips die akademischen Gesetze der Musiktheorie. Der kraftvolle Sound eines Staubsaugers oder Sportwagens, das Krachen von zweifelhaften Kartoffelchips: das sind die wirklichen Klangereignisse, welche die Gesellschaft interessieren. Zweitens, und das ist das Allerschlimmste: Die Langzeitdatenspeicherung ist -besonders für die Musik- ein ähnlich ungelöstes technisches Problem wie der Atommüll. Was ist die Haltbarkeit einer selbstgebrannten CD oder einer Festplatte gegen die Inschrift auf einer Steintafel oder wenigstens einer solide geführten Bibliothek? Wer soll die Daten speichern außer dem Hersteller? Kunst wird nach dem Verursacherprinzip gehandhabt: Wer Kunst verursacht, muss auch für deren Entsorgung aufkommen. Die jahrzehntelangen Erfahrungen des Felsensängers in Bezug auf Datenspeicherung und das Bibliothekswesen sind das Niederschmetterndste an seiner Tätigkeit, dagegen ist die Lebensgefahr am Abgrund direkt eine Erholung: eine Schande für den Staat, für Europa, die westliche Zivilisation! Wie berühmt muss man sein, dass man nicht vergessen wird? Und warum? Die Musik ist einerseits kein Spekulationsobjekt wie die bildende Kunst, welche Aktien für die Wand herstellt, und andererseits, was ist ein feinsinniges Tongebilde gegen die Schlachtrufe im Fußballstadion? Wer den Sport fördert, hat das Volk auf seiner Seite; wer die Kunst fördert, hat es gegen sich. Wer sich der Berieselung widersetzt, gilt als Schmarotzer.

Zauberflöten- Promenade:
Parodie à la Nestroy

Wer sich über die Bedeutung der „Zauberflöte“ aktuell informieren will, sollte folgendes Buch lesen: Perl, Helmut Der Fall Zauberflöte- Mozart und die Illuminaten. Atlantis Verlag, Zürich 2006. Der Autor erklärt darin nicht nur den sehr starken Salzburg- Bezug der „Zauberflöte“, sondern vor allem, dass die Märchenhandlung, als welche die Zauberflöte meist gut verkauft wird, in Wahrheit nur Tarnung ist, S66,f: „Die ‚Drei Damen’ rufen drohend ‚Papageno’, gleichzeitig und dreimal nacheinander, unterbinden damit das Gespräch mit Tamino, das ja vielleicht gefährliche Dimensionen annehmen könnte, und verhängen, um sicher zu gehen, das Redeverbot: Schloss vor den Mund! [...] Für Papageno und Papagena haben Mozart und Schikaneder eine fabelhafte kabarettistische Einlage geschaffen und vor den Schlusshymnus gestellt, das „alberne“ Duett [...] ein Couplet im Stile Nestroys!“ Dass Mozart selbst Papageno keinesfalls als Sympathieträger sieht, begründet Perl mit dem Brief Mozarts vom 8.10.1791, in welchem er sich über einen Bundesbruder in der Theaterloge entrüstet (S12): „ unglückseligerweise war ich eben drinnen als der zweite Akt anfing, folglich bei der feierlichen Szene. Er belachte alles; anfangs hatte ich Geduld genug, ihn auf einige Reden aufmerksam machen zu wollen, allein er belachte alles; da ward’s mir nun zu viel. Ich hieß ihn „Papageno“, und ging fort. Ich glaube aber nicht, dass es der Dalk verstanden hat...“


Dieses Buch war dem „Felsensänger“ als Textautor der Parodie als er sie schrieb, noch unbekannt, ist es doch auch erst zum Mozartjahr 2006 erschienen. Nachträglich betrachtet sind die Parallelen zwischen dem Hintergrund der Zauberflöte, wie in diesem Buch geschildert, und den Abgründen der Parodie verblüffend. Die Feindbilder der Parodie haben sich seit 1791 freilich sehr stark gewandelt: Die Provokation ist heute, als „Freyluftcapellmeister“ unter widrigsten Bedingungen im öffentlichen Raum aufzutreten, um einen hochwertig-künstlerischen wie zeitkritischen Inhalt überhaupt noch aufzuführen: nämlich praktisch ohne Geld!... Es mag schon stimmen, dass man als Künstler heute mehr sagen darf als im Vergleich zur Nestroyschen Vormärzzeit (diese war noch wesentlich rigider als zur Zeit Mozarts): dafür hört einem aber auch so gut wie niemand mehr zu! Die Masse kann mit Kunst –nach der obigen Definition- nichts mehr anfangen. Die Werbung -also die Wirtschaft- hat nicht nur die Funktion der Kunst samt den ideologischen Inhalten weitgehend übernommen, Markensymbole sind die heutigen Sakramente. Das "Sponsoring", durch welches sich der Staat bez. “Bildungsauftrag” aus der Affäre zieht, ist nur mehr der Abgesang der Kunst, weil die Wirtschaft dadurch ja bestimmt, welche Kunst öffentlich in Erscheinung treten darf, und damit auch welche nicht. “Sponsoring” bedeutet demnach letztlich nur: “Werbemusik”.


Die für den gewöhnlichen Konzertkonsumenten zunächst befremdliche Präsentationsform der "Naturfestspiele"gründet in der expeditionsartigen Freiluftausrüstung, ohne welche die Darbietungen unter diesen Umständen unmöglich wären: ohne rote Bekleidung ist der Sänger bei Nebel und riesiger Entfernung nicht mehr zu sehen. Er braucht dazu bisweilen sogar eine Stirnlampe. Da sämtliche Darbietungen grundsätzlich ohne Mikrophonverstärkung stattfinden, entsteht je nach den natürlichen akustischen Gegebenheiten ein Dialog zwischen Musik und Landschaft, der vom zarten Piano bis zur riesigen Operngeste reicht. Dabei ist es oft unerlässlich, Lieder lauter zu singen als im Konzertsaal; und dieses Freiluftkonzert findet im Winter statt! Die ständige Tiefatmung eiskalter Luft birgt nicht nur eine enorme Erkältungsgefahr in sich, mit dem Risiko bleibender Schäden für die Singstimme: sie schränkt auch deren unmittelbare Leistungsfähigkeit enorm ein. Aus diesem Grunde entwickelte der "Felsensänger" Ruttinger für sich selbst die unverzichtbare "Atemluftheizung", deren dritter Prototyp (Version 3.3) erstmals 1997 offiziell eingesetzt wurde. Die -mittels Infusionsbesteck- befeuchtete Warmluft für jeden einzelnen Atemzug hat sich der Sänger -über ein Silikonschlauchsystem und eine Austrittsdüse unter dem Mund- selbst zuzuführen; und zwar über zwei Blasebälge, ähnlich dem Windwerk einer uralten Orgel. Als Wärmequelle dient ein Expeditionskocher mit Spezialgasmischung. Bei einer Frühmesse auf der Orgelempore, einem eisigen "Stille Nacht" oder einer frostigen Beerdigung können viele Berufskollegen angesichts des außerirdisch anmutenden Gerätes durchaus vor Neid erblassen: eine Erlösung im Kampf gegen zusätzliche Indisposition! Bei den Barmsteinen, teils am eisigen Klettersteig, teils in morastigem, weglosem Gelände wird das "Handling" jenes gasbetriebenen Geräts in der Größe eines Staubsaugers (7,5kg trotz Aluminium- Leichtbauweise!) zu einem durchaus mörderischen Unterfangen. Ob im Gehen oder bei einer erlesenen Gesangsdarbietung am direkten Abgrund: es empfiehlt sich, während der "Selbstbeatmung" umsichtigst zu hantieren, um nicht selbst in Flammen aufzugehen. Als überraschende Schwierigkeit haben sich auch klimatische Umstellungen bei rascher Programmfolge erwiesen: Nicht nur die Bewältigung des Klettersteigs mit sicherheitshalber abgeschaltetem Gerät, auch eine beheizte Kapelle kann dabei –wegen der zu raschen Umstellung der klimatischen Bedingungen- für die Stimme zur unerwarteten Falle geraten. Die Mobilheizung -Mittelding aus Maschine, Musikinstrument und modernem Kunstwerk- trägt eine Inschrift; scheinbar rationale Bedienungsanleitung verbirgt sich -symptomatisch für alle Requisiten- dahinter das Mysterium:
Diese **Atemluftheizung** wurde aus Instrumenten der Notfallmedizin gefertigt, um dem Versagen der menschlichen Stimme in kalter Umgebung entgegenzuwirken. Als Energiequelle wirken Lauterkeit und Widerstandskraft. Missbrauch (auch letzterer!) und Leichtsinn können zur Explosion, Nichtgebrauch aber kann zum Verlust der Artikulationsfähigkeit führen!
+ANIMUS SPIRAT SENTENTIAM IGNORANS+ Salzburg, 1997.


Das lateinische "Credo" Ruttingers: "Der Geist geht nicht nach dem Erfolg". Es umfasst auch die alternative Finanzgebarung, das selbstmörderischeste Unterfangen der von ihm gegründeten Naturfestspiele, die sich hinwiederum wie folgt erklären: "Die Natur ist das Fest, das Spiel ist uns ernst; Natur ist kein Spielzeug: so fest ist sie nicht." Die mitgeführten "Requisiten" begründen sich meist von selbst: Außer einem Auffanggurt zur Personensicherung am Klettersteig, Karabinern, Sturmzündern usw. führt der Sänger in seiner Berufsausrüstung u.a. mit sich:


"Sprachrohr, Vorrichtung zur Verstärkung des Schalls gesprochener Worte, besteht in einer Röhre, in welcher die Schallstrahlen aufgenommen und zusammengehalten werden, so dass sie sich nicht sofort vom Munde weg nach allen Seiten zerstreuen können."


(Meyers Konversations-Lexikon, 1867)


Noch zu Franz Schuberts Zeiten gab es eine


andere Klavierstimmung


als heute; und selbige ist eine große Leidenschaft des Felsensängers. Die Unterschiede zwischen beiden kann selbst der Laie erkennen:


"Jeder Ton ist entweder gefärbt oder nicht gefärbt. Unschuld und Einfalt drückt man mit ungefärbten Tönen aus. Sanfte, melancholische Gefühle mit B-Tönen; wilde und starke Leidenschaften mit Kreuztönen." (C.F.D. Schubart in "Ästhetik der Tonkunst", 1806).


Die Wahl einer Grundtonart bestimmt so von vorneherein die "Stimmung" eines Gedichtes, welches der Komponist in Musik setzt, und jede -auch nur vorüber gehende!- Ausweichung in eine andere Tonart wirkt sich somit ganz erheblich aus; es ist, als würde jeder Dreiklang eine eigene Farbe besitzen, während die heutige, gleichschwebende Stimmung dieselben Akkorde wie in einem Schwarzweißfilm wiedergibt. Auf einem heute üblichen Konzertflügel muss der Begleiter durch gekünstelte Anschlagsnuancen versuchen, den Hintergrund der Musik auszudeuten. Dies bedeutet fast ausschließlich Änderungen in der Lautstärke, welche die Singstimme behindern. Zudem sind die heutigen Instrumente gegenüber dem historischen Hammerflügel viel zu laut! Die gegenwärtige Aufführungspraxis ist damit wesentlich sinnwidriger als die zunächst unpassend rationalisiert, "unromantisch" erscheinende Interpretation des Klaviersatzes bei solchen Freiluftkonzerten: Auf große Distanzen muss man laut singen und extrem artikulieren. Danach hat sich die Begleitung zu richten. Die Farbigkeit der historischen Stimmung kommt dem harmonischen Ausdruck jedoch ganz besonders entgegen: Ein Dur- oder Moll- Akkord der Begleitung kann nämlich mild oder scharf klingen,- und zwar unabhängig von der Lautstärke! Der Klang aus dem Lautsprecher hingegen ist nicht nur durch die Qualität der Abspielanlage bedingt: das Teuerste daran ist der Klang der Aufnahme selbst, nämlich die elektronische Klangerzeugung. Diese ist fast ausschließlich eine finanzielle Angelegenheit, und für Prestigeobjekte haben "Naturfestspiele" -naturgemäß- kein Geld. Aufgrund der akustischen Bedingungen eines solchen Freiluftkonzertes (außer der Entfernung spielen auch Wind, Nebengeräusche und dämpfender Schnee eine große Rolle) sind manche Transpositionen unumgänglich ("Lindenbaum"). Auch bei diesen wird aber die Tonartencharakteristik genau eingehalten, sodass sich nur die absolute Tonhöhe ändert, nicht aber der Charakter der einzelnen Modulationen in der adäquaten Klavierstimmung. Dies ist nur ein Grund unter vielen für die Einspielung der Klavierstimme vermittels eines elektronisch gesampelten Clavichordes: da es sich während der Aufführungen um einen unveränderbaren Tonträger handelt, hat sich der Sänger genauestens an die vorproduzierten Nuancen der Einspielung zu halten. Dies erschwert das Singen gegenüber der Begleitung mit einem Pianisten aus Fleisch und Blut ganz erheblich, und zieht oft äußerst komplizierte Metronomschläge nach sich; andererseits ist es dadurch möglich, die musikalischen Daten vor dem Konzert an geänderte Verhältnisse (z.B. die Entfernung) anzupassen:


Die dislozierte Beschallungsanlage (wie sie bei den Barmsteinen verwendet wird) setzt die Klavierbegleitung äußerst umweltfreundlich in die Landschaft: das virtuelle Klavier am Zuhörerstandpunkt ist nämlich noch leiser, als die entfernte Singstimme. Was der Zuhörer tatsächlich aus dem Lautsprecher hört, ist meist nicht lauter als ein unverstärktes Mobiltelefon! Um beide Schallereignisse zu koordinieren, wird dem Sänger sein Korrepetitionssignal per Betriebsfunk zugespielt. Was für ihn aus dem Kopfhörer klingt, ist genau um jene Zeitspanne vorversetzt, die der Schall bis zum Zuhörerstandpunkt benötigt. Ohne diese "Zeitkorrektur" wäre die Aufführung vom Felsen unmöglich. Ein Extremfall aus der jahrzehnte langen Praxis ist z.B. die Aufführung des Liedes "die Krähe", -im Laufe dessen sich der Sänger auf den Lautsprecher beim Publikum zu bewegt: Hier waren innerhalb 50m sogar drei verschiedene Zeitkorrekturen nötig, wegen der Komplexität des Klaviersatzes: Dieser weist nämlich als Hauptelement eine synkopierte Imitation der Singstimme auf. Letztere wird gleichsam vom Klavier umflattert, so wie die Krähe als Todesbote den Sänger umkreist. Wenn man die Abspielanlage direkt am Leibe trägt (wie z.B. am Salzburger Mönchsberg), ist freilich keine Zeitkorrektur mehr nötig: der Sänger trägt eine wesentlich lautere Abspielanlage auf einer Kraxe oder einer Feldkoppel mit sich: auf dem Gelände um die winterlichen Barmsteine wäre dies hingegen unmöglich.


Die Vorliebe des Sängers und seiner "Begleiterin" (man beachte die neue, äußerst romantische Bedeutung außerhalb des Konzertsaals!) für die verwendete Stimmung Kirnberger II aus 1771 findet eine Parallele in der kompositorischen Tätigkeit des Felsensängers: So entwickelte er 1989 (und zwar auf einem alten Flügel) ein eigenes Tonsystem, welches sich nur auf reinen Terzen und Quinten aufbaut, und das auf jedem stimmbaren Tasteninstrument spielbar ist. Da die zwölf Töne ungleich von einander entfernt sind, ist es möglich, ein Thema in zwölf Varianten darzustellen, wobei sich von einer Tonstufe zur anderen die Melodie des gewählten Themas selbst verändert. Es ist, als betrachtete man einen Gegenstand aus zwölf verschiedenen Richtungen: Obwohl dieser selbst sich nicht verändert, erhält er mit jedem Blickwinkel ein anderes Aussehen. Ebenso, wie das Abendland bisher mit seinem eigenen Tonsystem verfahren ist, so ist es auch mit seinen übrigen geistigen wie ökologischen Bereichen verfahren:


So, wie die natürlichen Obertöne denaturiert und manipuliert wurden, so verhält es sich auch mit unserem Lebensraum: ein bisschen Gift, ein bisschen Radioaktivität und ein bisschen Unrecht für Jedermann: Wahrheit und Lüge werden ebenso "gleichschwebend" verteilt, wie Terzen und Quinten. Solange, bis sie frei untereinander kombinierbar sind. Die Syntonik aber kennt diese "Grenzwertphilosophie" nicht.


In der Auseinandersetzung mit dem freien Schallfeld sind zusätzlich eigenständige Musikformen entstanden, die -je nach Finanzlage- Bestandteil von Sommerveranstaltungen der Naturfestspiele sind: "Funkkanon", "Seilbahnmusik" usw.
Die künstlerische Vision der Naturfestspiele findet auch ihre weltanschauliche Entsprechung: die Vorstellung, dass der einsame Wanderer der „Winterreise“ selbst in der Ausweglosigkeit seinen Bestimmungsort findet. Darin liegt eine Katharsis.

Die Felsensängerfamilie

Christina Ruttinger –geboren in Karlsruhe- ist Klavierpädagogin an der Musikschule Bad Reichenhall. (Diplom der Universität Mozarteum, auch Chorleiterdiplom.) Meisterkurse u.a. bei Gaby Casadesus und Erik Werba. Sie gewann zweimal den Tonkünstlerwettbewerb Baden- Württemberg, Rundfunkaufnahmen im SDR und BR. Jahrelang begleitete sie den Ehemann als Tenor am Flügel bei Konzertreisen vor allem in Frankreich („Österreichische Musik aus acht Jahrhunderten“ mit Unterstützung der Republik Österreich). Christina Ruttinger ist Mitbegründerin der „Naturfestspiele“ und darüber hinaus verdankt die Musikgeschichte ihr singuläre Tondokumente von Funkkanons im Hochgebirge als Aufnahmeleiterin. Außerdem war sie jahrelang die rechte Hand bei der Aufführung von Ruttingers Vertonung des „Faust“ nach Nikolaus Lenau, mit dem Komponisten als Schauspieler. Sie hat inzwischen selbst drei Musiktheaterstücke für Grundschulkinder verfasst und produziert.

Leopold P. Ruttinger wurde in Salzburg geboren und begann zu singen, noch bevor er sprechen konnte. Gesangs- Kompositions- und Schauspielunterricht vom Vater, Klavier von der Mutter. Gerade vier geworden erste Gesangsaufnahmen auf CD. Auftritt siebenjährig im Musikkabarett. Achtjährig erster Preis „Jugend Musiziert“ in der Horn- Duowertung, ebenso erster Preis bei „Prima la Musica“ im Sologesang. Mit acht Jahren erarbeitet er mit dem Vater eine eigene mikrotonale Tonleiter und eine Hornheizung für die Naturfestspiele. Erster Auftritt beim großen Freiluftkonzert der Naturfestspiele. Mit neun Jahren erster Preis Sologesang „Jugend Musiziert“, im selben Jahr erste mikrotonale Komposition für Horn und Elektronik. Mit zehn Jahren wiederum erster Preis als Sänger bei PLM und erster Preis bei „Jugend Musiziert“ als Hornist. Erstes Solistenkonzert in Salzburg. Mit elf Jahren singt er u.a. Webern Op. 4 und mikrotonale Kompositionen aus dem Konzertrepertoire des Vaters. Er spielt als Hornist beide Stimmen der syntonischen Turmmusik: eine Uraufführung der Fassung für zwei Hörner. Mentoren seiner Bläserkunst sind Willi Schwaiger (erster Hornist des Mozarteumorchesters), Will Sanders (Musikhochschule Karlsruhe) und derzeit Tanja Schwarz- Heinrich, Innsbruck.

Winterreise


Freiluftkonzert mit Liedern aus der "Winterreise" Op. 89 (1827), von Franz Schubert nach Gedichten von Wilhelm Müller. (Historische Stimmung Kirnberger II aus 1771.)


"Eine schwere Thräne entfiel meinen Augen"


(Franz Schubert in Salzburg, 1825)


"Ich wollte in die entgegengesetzte Richtung."


(Thomas Bernhard "Der Keller", 1979)


"Die Salzburger -wie andere auch- haben die Seele der Stadt restlos zu Geld gemacht. Ein solches Geschäft mit dem Teufel schaffte von jeher nur vorübergehend Erleichterung. "


(Werner Ruttinger, 1997)


"Ich kann zu meiner Reisen nicht wählen mit der Zeit,
muß selbst den Weg mir weisen in dieser Dunkelheit."


(Wilhelm Müller "Winterreise", 1821)


In der Kälte ist nicht Gelegenheit, viele Worte zu machen. Bei Expeditionen oder Katastrophen herrschen nur mehr Anweisungen wie: "Sturmzünder für die Atemluftheizung! Batterien für die Stirnlampe! Die Elektronikheizung ist ausgefallen!" Die Tonkunst ist zum Katastrophenfall verkommen; nach der zeitgenössischen nun auch die klassische Musik. Die Werbung hat die Funktion der Kunst übernommen. Unsere Religion heißt Konsum. Der Mensch ist der Seele beraubt, sein Abbild vom Ebenbild Gottes zum Genschwein geworden. Die Sprache der "ernsten Musik" ist bald vergessen, wie das Altgriechische.
Die Veranstaltung ist im Wesentlichen selbsterklärend. Sie fügt sich allerdings erst zum Schluss wie ein Mosaik logisch zusammen. Das Absurde ist oft nur eine Frage des Blickwinkels.


Wie in der letzten Strophe eines Wienerliedes tritt am Ende der "Winterreise" der Tod auf. Das bedeutet heute: den Tod der Kunst;- die eisige, völlige Isolation des sogenannten zivilisierten Menschen. Am Ende unserer Wanderung -nach knappen zwei Stunden- werden Sie sich durch die Katharsis -wie das altgriechische Theater die Reinigung der Seele beschreibt- durch eine kleine Katharsis wieder ein wenig mehr für die Absurditäten des Alltags gerüstet fühlen.
Peter T. Lenhart schreibt anlässlich einer Kunstausstellung in München 2006: „Denn der Textdichter, der Dessauer Schriftsteller Wilhelm Müller, war nun beileibe nicht nur ein romantischer Natur- und Liebesschwärmer. Sondern ein für damalige Zeiten ziemlich fortschrittlich gesinnter Kopf, der von Lord Byron beeinflusst mit dem Unabhängigkeitskampf der Griechen sympathisierte und den verlorenen Idealen der französischen Revolution hinterher trauerte; der unter dem repressiven und reaktionären System Metternich litt und dessen Schriften immer wieder von den nach den Karlsbader Gesetzen allmächtigen und allgegenwärtigen Zensurbehörden verändert und verboten wurden. Müller (der streng genommen eigentlich weniger ein zu später Romantiker als ein verfrühter Vertreter des Vormärz war) konnte also kaum offen bzw. öffentlich von dem sprechen, was ihn bewegte und war also gezwungen, das eigentlich gemeinte stets zu codieren und also auf mindestens zwei Bedeutungsebenen zu operieren. So darf man davon ausgehen, dass auch jene Gedichte "aus den nachgelassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten", die Schubert nach Müllers Tod vertont hat, doppelt zu lesen sind und dass in ihnen, unterhalb der Thematik von verlorener Liebe und Einsamkeit, von Winter und Naturerleben, auch eine politische Bedeutung mittransportiert wird - welche von Müllers gleichgesinnten Zeitgenossen decodiert werden konnte, während die Zensurbehörden idealiter an der poetischen Oberfläche hängen blieben.“


Dass auch Schubert anders als mit Rührseligkeit an die Textvertonung gegangen ist zeigt ein intellektueller Höhepunkt der „Winterreise“, das Lied „die Nebensonnen.“ Der Dichter nimmt eine winterliche Himmelserscheinung (Parhelia) als Ausgangspunkt: Winzige, in der Atmosphäre schwebende Eiskristalle projizieren zwei Reflexe links und rechts neben die Sonne. Diese drei Lichter setzt er den christlichen Begriffen Glaube, Hoffnung und Liebe gleich und urteilt:


„Meine Sonnen seid ihr nicht,/ Schaut andern doch ins Angesicht!/ Ach, neulich hatt’ ich auch wohl drei:/ Nun sind hinab die besten zwei./ Ging nur die dritt’ erst hinterdrein,/ Im Dunkeln wird mir wohler sein.“


Lenhart meint sogar: „Um beim hier genannten Beispiel zu bleiben: die Sonnen, die der Protagonist des Gedichts “neulich” noch hatte und von denen jetzt die besten zwei perdu sind – das mögen zunächst durchaus die reale Sonne und – verloren - die zwei strahlenden Äugelein der signifikanten Anderen sein; das mögen weiters allegorisch Glaube, Hoffnung und Liebe sein. Das sind aber, so kann man mit guten Gründen annehmen, zugleich auch Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit; und Brüderlichkeit war ja tatsächlich alles, was bestenfalls und privat übrig geblieben war. Freiheit und Gleichheit waren im Metternichschen Regime gefürchtet und gebannt.“


Schubert –ebenso hintergründig- verwendet eine Tonart mit drei Kreuzen als Vorzeichen, nämlich A-Dur. Auf den vielen –noch mitteltönig orientierten- Kirchenorgeln seiner Zeit symbolisiert diese Tonart noch den Wohlklang der „Dreieinigkeit“. In der Klavierstimmung Beethovens (und damit auch Schuberts), -nämlich Kirnberger II- hingegen brennen Liebe und Leidenschaft in -für die damaligen Ohren- verzerrten Intervallen. Schubert hat den Text –abweichend vom Dichter Müller- als vorletztes Lied –also gleichsam vor den Auftritt des Todes in Gestalt des Leiermanns- gereiht. Nebenbei: Zur Thematik Glaube, Hoffnung und Liebe, -also des ersten Korintherbriefes im Neuen Testament- konnte man am selben Ort vom Klettersteig in unserer Sommervorstellung „Jägers Liebeslied“ hören- eine fast ebenso hintergründige Angelegenheit.


Im Lied „Täuschung“ parodiert sich Schubert selbst: Er zitiert eine Arie aus seiner Oper „Alfonso und Estrella“. In der Vorlage tanzt das „Wolkenmädchen“ elfengleich über Felsenstufen. Drei Jahre später, in der „Winterreise“ tanzt die selbe Melodie –transponiert in die unerfüllteste und irrationalste aller Klaviertonarten, nämlich in das selbe A-Dur wie bei den „Nebensonnen“- als Irrlicht durch „Eis und Nacht und Graus“ : Der Meister scheint auf sein eigenes aussichtsloses Opernschaffen Bezug zu nehmen und endet mit „Nur Täuschung ist für mich Gewinn.“


Ähnlich ist auch dem Felsensänger zumute: Von der regelmäßigen etwa 10 Jahre alljährlich durchgeführten Aufführung der gesamten „Winterreise“ ist aus rein finanziellen Gründen derzeit nur ein Torso am Salzburger Mönchsberg zu hören; das liegt auch an der Tatsache, dass der gewöhnliche Städtetourist nicht mehr Zeit aufwenden will. Ausgangspunkt des ersten Regiekonzeptes für den Mönchsberg war ursprünglich das Sattler- Panorama der Stadt Salzburg 1825. Im selben Jahr hat nämlich Franz Schubert die Stadt bereist! An seinen Bruder Ferdinand schreibt der "Compositeur" am 12. September 1825:


"Dir die Lieblichkeit dieses Thals zu beschreiben, ist beinahe unmöglich. Denke Dir einen Garten, der mehre Meilen im Umfange hat, in diesem unzählige Schlösser und Güter, die aus den Bäumen heraus oder durchschauen, denke Dir einen Fluß, der sich auf die mannigfaltigste Weise durchschlängelt, denke Dir Wiesen und Äcker, wie eben so viele Teppiche von den schönsten Farben, dann die herrlichen Straßen, die sich wie Bänder um sie herumschlingen, und endlich stundenlange Alleen von ungeheueren Bäumen, dieses Alles von einer unabsehbaren Reihe von den höchsten Bergen umschlossen, als wären sie die Wächter dieses himmlischen Thals, denke Dir dieses, so hast Du einen schwachen Begriff von seiner unaussprechlichen Schönheit."


Demgegenüber steht das Lied der 2. Station:


"Rückblick" (Nr.8, g-moll)
"Die sogenannte Hohe Kunst wird [...] von dieser Stadt und ihren Einwohnern für nichts anderes als ihre gemeinen Geschäftszwecke missbraucht, die Festspiele werden aufgezogen, um den Morast dieser Stadt für Monate zuzudecken."


(Thomas Bernhard: "Die Ursache", 1977)


* * *


3. Station: "Im Dorfe" (Nr.17, D-Dur)
Nachruf auf den "Professor"


"Es wird sich wohl nie mehr klären lassen, wer der 58 jährige Friedrich Eduard Wawrik, den alle nur 'Professor' nannten, wirklich war", schreiben die Salzburger Nachrichten. "Mit seiner Fellmütze, dem dicken Mantel und der großen Geste eines Redners schritt er durch die Gassen, sprach zu einem imaginären Publikum und war eine weithin bekannte Erscheinung." "Offiziell galt er als 'Obdachloser'- er selbst nannte sich 'ausgebildeter Musikwissenschaftler, Opernsänger, Schlagersänger, Liedersänger'. Die Bank auf dem Mönchsberg war sein 'Zuhause'. Hier wurde er an seinem Geburtstag, dem 24. Mai 1996 in der Nacht ermordet. Der Staatsanwalt sprach von einer der "brutalsten, aufsehenerregendsten und irritierendsten Straftaten in der Salzburger Kriminalgeschichte." Für eine Beute von € 145.- sei der Obdachlose "regelrecht massakriert" worden: Während ein Jugendlicher den auf seiner Bank ruhenden "Professor" in einem Würgegriff festhielt, schlug ihm der Erwachsene mit einem fernöstlichen Nunchako den Schädel ein. Zwei Mädchen standen dabei Schmiere. Laut Polizeibericht wirkte der Mann wie aufgebahrt, versehen mit abgebrochenen Zweigen in der Form eines Kreuzes.


* * *


Über die Träume des Felsensängers


Beim Konzert hatte der Felsensänger versagt und lag mit schwerer Grippe zu Bett. Da erschien ihm in einem Fiebertraum Franz Schubert, der Liederfürst: Ein Fläschchen hatte er in der Rechten. Freundschaftlich sprach er, der Erhabene, zu ihm, dem Armseligen, herab: "A Stimm' hast': von Gold keine Rede... Aber: dich hab ich auserwählt, weilst ein Hirn hast. Und das is' ungewöhnlich für einen Tenor. Auf, auf! Es ist nun Zeit für eine Winterreise in Gottes freier Natur, denn die Kunst, das Schöne vereist. Es kommt eine künstlerische Eiszeit. Gnadenlos sind die Menschen geworden. Sie wollen nur mehr lauwarme Stimmen hören, den Geist meiner Lieder treten sie mit Füßen. Mit diesem Flascherl aber kommt mein Geist auf dich und dein Publikum. Es sind meine heißen Tränen der Winterreise. Sie werden dich wärmen. Nimm sie hin, als große Gnade, doch bestehe die Feuerprobe!" Der Tenor, schweißgebadet, wollte zuwider reden, aber es kam nur ein trockenes Hüsteln aus seiner Kehle. "Halt den Mund, Burschi", sagte der Unsterbliche noch im Verschwinden, "a Sänger darf net reden, wenn er verkühlt is'..."


Der Tenor trat seinen Leidensweg an. Vom einsamen Felsen ließ er die erwählte Stimme erschallen: "Was vermeid' ich denn die Wege, wo die andern Wand'rer geh'n..." Dann jedoch: ein weiterer Hustenanfall. Da wusste er: Zeit für eine Atemluftheizung, und zwar mit Feuerkraft! Die erste Konstruktion bestand aus zusammengelöteten Konservenbüchsen: Eine riesige Rußwolke war das Ergebnis. Die Kollegen höhnten, er wolle sich nun endgültig die Stimme ruinieren, aber es sei wohl nicht schade darum. Beim nächsten Versuch im Hinterhof -es war eine eiskalte Winternacht- erschien ein Mann vom Roten Kreuz. Er bat ihn, von einem Selbstmordversuch mittels Vergasung abzulassen. Da gedachte der Sänger wieder der heißen Tränen des Meisters: "Eine Befeuchtung der Atemluft! Und dafür nehm' ich das heilige Wasser!" Dazu bedurfte es noch weiterer Feuerkraft und er wäre beinahe in die Luft geflogen. Wahrscheinlich rettete ihn nur die mitgeführte Christophorusmedaille. Doch war dies nicht die verlangte Feuerprobe gewesen? Nach allem Hohn und Spott hatte er sie bestanden. Die Tränen des Meisters aber sind seither ein Bronnen der Weisheit und Wahrheit: klarer Quell in der Eiszeit des Schönen: er verdampft und ist zum Atmen bereit.



Wochenende

Bis drei Uhr nachmittags -so berichtet Thomas Bernhard über die Salzburger Scherzhauserfeldsiedlung- bis drei Uhr nachmittags herrschte die Feiertagsstille. Dann liefen manche aus ihrer Behausung: schreiend und mit zerstörtem Gesicht. Der Mensch -so folgert der Dichter- weiß mit der Freiheit nichts anzufangen: "Das Unglück erfasst alle, wo die Arbeit und die Beschäftigung eingeschränkt werden." Der Dichter beruft sich auf den Dienstplan von Notärzten, welche am Samstag wie zu keinem anderen Zeitpunkt beansprucht würden. Aus seiner Tätigkeit als Gerichtsberichterstatter führt er an, dass "achtzig Prozent der Ermordeten am Samstag" umgebracht würden. Dann finde der Bürger auch die Zeit, um seine Kinder zu reizen und "zum berühmten Totschlagen der Zeit" auch zu verprügeln. (Der erwähnte Mord am Mönchsberg wurde übrigens in einer Freitag Nacht verübt, der Tod trat dann aber am Samstag ein.) Die Worte des zu Lebzeiten heftig umstrittenen Dichters eignen sich heute, nach seinem Tod im Jahr 1989, bereits für die Sonntagspredigt: "Die Samstage sind die eigentlichen Menschentöter auf der Welt, und die Sonntage machen diese Tatsache auf die unerträglichste Weise bewusst, und die Montage schieben die Unzufriedenheit und das Unglück wieder um die ganze Woche bis zum nächsten Samstag [...] hinaus."


Am Staatsbrückenkopf


Am Staatsbrückenkopf rief eines Sommers jemand den Namen des Dichters, so erzählt Thomas Bernhard: Da stand ein Mann um die fünfzig, an seinen Presslufthammer gelehnt. Der Schweiß lief ihm von der Glatze, und sein Bauch hing über die blaue Schlosserhose. So stand er da, am Rathausbogen neben dem Juweliergeschäft: ein zahnloser Säufer, ganz offensichtlich.
Die Rumflasche habe ihm der Dichter in dessen Jugend aufgefüllt, die Rumflasche seiner Mutter: im Kellerladen in der Scherzhauserfeldsiedlung. Ob er, der Dichter, sich noch an ihn erinnere: Sommer und Winter sei er barfuß gegangen,- Sommer und Winter, das ganze Jahr. Seine Mutter habe ein gutes Herz gehabt: eine religiöse Frau, "gottesfürchtig, aber nicht katholisch". So gut war ihr Herz, dass sie -mit ihrem Krebs ans Bett gefesselt- buchstäblich noch als Skelett ein ganzes Jahr lang gelebt habe;- und zwar ausschließlich von Rum, und in den Rum getunkten Semmeln. Unter seinem Leben habe er sich etwas anderes vorgestellt. Er, der vom Dichter liebenswürdig beschriebene Säufer, bat ihn um eine Zigarette. Der Dichter jedoch war zeitlebens lungenleidend. "Servus", und "es ist alles egal", sagte der Mann mit dem Presslufthammer zum Abschied, und der Dichter schloss die Erzählung mit den Worten: "Es ist das Wesen der Natur, dass alles egal ist." Es sei gleichgültig, ob einer "mit seinem Presslufthammer oder an seiner Schreibmaschine verzweifelt." "Servus"- übrigens ein Slogan der österreichischen Fremdenverkehrswerbung- "Servus- und: es ist alles egal."


Vorprogramm bzw. Zugabe:


Werner A. Ruttinger "Gastlokal", 1996


An versiegelten Tischen schmeckt man im Wein nur mehr selten das Blut:

Von Bruderschaft spricht nur, wer betrunken ist -


und als Gast ist nur willkommen, wer sein Leben lang Fremder bleibt.


Man hat auch aufgehört, um die Zukunft zu würfeln,


weil nur die Vergangenheit mehr als Einsatz zählt.


So, während sich sachte die Decke senkt,


verdichtet sich stetig der Rauch, weil die Zeit verbrennt -


und manchmal riecht es nach brennenden Kreuzen.


"Das Wirtshaus ist kein Gotteshaus, doch ging schon mancher selig raus":


An versiegelten Tischen schmeckt man im Wein nur mehr selten das Blut:


Als Gast ist nur willkommen, wer sein Leben lang Fremder bleibt.


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Wir kommen nochmals auf den Brief Schuberts vom 12. September 1825 über Salzburg zurück:


„Thürme und Paläste zeigen sich nach und nach; man fährt endlich an dem Kapuzinerberge vorbei, dessen ungeheure Felswand hart an der Straße senkrecht in die Höhe ragt und fürchterlich auf den Wanderer herabblickt.
[...] ...vorbei geht es über die Brücke der Salzach, die trüb und dunkel mächtig vorüberbraust. (Die Stadt selbst machte einen etwas düstern Eindruck auf mich, indem ein trübes Wetter die alten Gebäude noch mehr verfinsterte,) und überdies die Festung, die auf dem höchsten Gipfel des Mönch[s]berges liegt, in alle Gassen der Stadt ihren Geistergruß herabwinkt.
[...] Vogl sang einige Lieder von mir, [...] die denn auch unter besonderer Begünstigung des [...] Ave Maria’s allen sehr zu Gemüthe gingen. Die Art und Weise. wie Vogl singt und ich accompagnire, wie wir in einem solchen Augenblicke Eins zu sein scheinen, ist diesen Leuten etwas ganz Neues, Unerhörtes.“
(Aus: Deutsch, Otto Erich: „Franz Schubert- Die Dokumente seines Lebens“, S 313 ff; Bärenreiter Verlag, Kassel, 1964 ISBN 3-7618-0214-5)

Im Rahmenprogramm vieler Veranstaltungen der Naturfestspiele –meist auch in der „Winterreise“- kann man Schuberts „Ave Maria“ mit Werner Ruttinger als Altus und Sohn Leopold mit einer eigens vom Vater dazukomponierten Hornstimme hören, da aus dem o.a. Brief zweifelsfrei erwiesen ist, dass Schubert eben dieses berühmte Lied in Salzburg präsentierte. Für Kompositionen im herkömmlichen Tonsystem verwendet Ruttinger sen. Allerdings das Pseudonym Leo Pech.

 

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"Der Leiermann" (Nr.24, a-moll)


Merke: In Kirnberger II- Stimmung ist die liegende Quinte, welche die Drehleier imitiert, eine der beiden verzerrtesten!


Zur Thematik ein Nachwort des „Felsensängers“:


Im Traume erschien dem Felsensänger der Leiermann. Er spielte gerade Schuberts "Ave Maria". Es klang ziemlich schräg, ab und zu blieben Töne hängen. Er war eine imposante Erscheinung mit einem löchrigen Zylinderhut. Ein bisserl sah er aus wie der Qualtinger. Als er mit dem Kurbeln fertig war, näherte sich der Felsensänger und warf einen Euro in den Hut. Der Leiermann lächelte aus seinem verwahrlosten Gebiss. Seine Ergebenheit erinnerte etwas an den Herrn Karl. Dann packte er ein Schmalzbrot aus. Der Felsensänger fasste sich ein Herz und sang mit aller verhaltenen Inbrunst: "Drüben hinterm Dorfe steht ein Leiermann..." Der Adressat hörte umständlich kauend zu. Dann hustete er kräftig und wischte sich den Rotz der bläulichen Nase in die Rückseite der löchrigen Strickhandschuhe. Der Sänger endete mit "...willst zu meinen Liedern deine Leier dreh'n..." woraufhin der Leiermann routiniert eine Schnapsflasche unter dem weiten Mantel hervorzog. Dann kiefelte er sabbernd den Korken auf und hielt dem ob des eigenen Gesanges Ergriffenen die schmierige Flasche entgegen;- freilich nur kurz, denn schon goss er sich einen erstaunlichen Gutteil des klaren Inhalts zwischen die Zahnlucken. Nach kurzem Aufstoßen nuschelte er mit rauer Stimme: "Vielen Dank, Burschi, aber weißt: Ich muss ja von was leben..." Mit einem lauten Plopp schlug er den Korken wieder auf die Flasche und der Felsensänger erwachte aus seinem Traum.

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Die größte Freiluftbühne der Welt:
"Schubert am Abgrund"


Wenn irgend möglich treten Vater und Sohn (Tenor/Horn) gemeinsam am Felsen an. Das erinnert etwas an die grandiosen Zeiten der Gründung der Naturfestspiele 1994 mit Hörnern am Gipfel und ist ton- und sicherungstechnisch ziemlich aufwändig. Auch eine gemeinsame kabarettistische Nummer ist geplant. Selbst eine Aufführung von Leopolds erster syntonischer Komposition für Horn und Elektronik -ein leises Stück, für das sein Horn eigens vom Instrumentenbauer modifiziert wurde- ist auf Wunsch denkbar!


Treffpunkt ist direkt vor dem Anwesen "Knollehen" am Ende des "Mehlwegs" in Marktschellenberg. (Navi- Eingabe für den Parkplatz: "Mehlweg 17") Endpunkt der Veranstaltung: "Barmsteinweg 7 Marktschellenberg". Die Parkplätze sind überall äußerst rar, und dort sind die besseren Parkmöglichkeiten. Aufstieg von dort bis zum Ausgangspunkt etwa 20 Minuten. Es gibt auch noch ein bis zwei Parkplätze direkt an der Abzweigung Mehlweg- Barmsteinweg. Besonders Wanderfreudige können von Kaltenhausen oder der Dürrnbergstraße kommen: Eine äußerst lohnende Einstimmung! Näheres unter www.naturfestspiele.at Bei "Youtube" finden sich unter diesem Suchbegriff zahlreiche Originalvideos.


Diese Exklusiv- Veranstaltung mit unserem "Felsensängerknaben" wird nicht öffentlich beworben und findet übrigens genau in der Location des "Sound of Music"- Openings von 1965 (einer der größten Musikfilme dieses derzeit eher armseligen Planeten) statt. 1996 berichtete die Süddeutsche Zeitung vierspaltig über die Naturfestspiele, 1998 wurde die Gründungs- Veranstaltung als "größte Freiluftbühne der Welt" ins Guinness Buch d. R. eingetragen, 2005, zum Mozartjahr, hat der Chefmusikkritiker der New York Times vierspaltig berichtet, 2006 das größte Printmedium Chinas, 2008 MBC Korea- TV in der Primetime für 8 Mio Zuseher: An der Reserviertheit der anwohnenden bayerischen Bevölkerung in Bezug auf Kulturdarbietungen abseits der Jodeltechnik hat sich seit den Dreharbeiten für "Sound of Music" (in der DVD- Neuausgabe deutlich dokumentiert) seit 1964 freilich nichts Wesentliches geändert...


1. Station: Knollehen


Liebe Weggefährten!


Herzlich willkommen zu einem musikalischen Grenzgang; zum Grenzgang auch entlang der Staatsgrenze.


Wer -wohlgemerkt bei freiem Eintritt!- für ein Mega-Event mit Lasershow, nackerten Weibern und eigener Trafostation für den Supersound gekommen wäre, den müssen wir um Entschuldigung bitten, dass wir keine Euro- Million für die Werbung und die passende Sattelschlepperkolonne auftreiben konnten. Es wäre für uns aber auch sinnlos: Der Sänger ist so weit entfernt, dass man -selbst auf dem größten Großbildschrim der Welt- von herunten nicht sagen könnte, ob der einsame Mann da oben am Berggipfel tatsächlich live ins Mikrofon singt oder nicht;- mehr noch: er ist so weit weg, dass man ohne Probleme sogar ein Double hinstellen könnte, und Sie würden es herunten -selbst mit dem Fernglas- nicht merken!


Sie kommen wahrscheinlich für eine Kammermusikdarbietung auf der -laut Guinness Buch der Rekorde- größten Freiluftbühne der Welt: Auf dem linken der beiden Berggipfel ist also ein roter Punkt zu sehen. Der glaubt, dass ein höheres Wesen die Naturgesetze geschaffen hat. Sie sehen, wenn ein Typ echt "far off the mainstream" ist, dann ist es der ausgeflippte Nostalgiker da oben, angeseilt über dem Abgrund! Er ist genau 350m entfernt, und singt in ein Betriebsfunkgerät. Also nicht nur unplugged, sondern völlig ohne jede Mikrofonverstärkung! Das erste Stück ist ein sogenannter Funkkanon, nämlich das "Kyrie" aus seiner Barmsteinmesse. Harmonisch als alte Musik getarnt, ist es dennoch von einer auf der Welt bisher einzigartigen Idee durchdrungen:


Sie hören nämlich den Gesang zweimal: Sofort aus dem Funkgerät, und dann eine Sekunde später nochmals, wie sich der Schall natürlich in der Landschaft ausbreitet. Diese Sekunde braucht der Schall, um bei dieser Entfernung von 350m zum Zuhörer zu gelangen. Der Sänger kann so, durch die Einbeziehung der ganzen Landschaft, mit sich selbst zweistimmig singen: eine philosophische Angelegenheit.


Übrigens, für feine Ohren: Die merkwürdigen Tonhöhen sind beabsichtigt: es ist syntonische Musik.


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Station: In der Lichtung vor dem Großen Barmstein

Franz Schubert


"Die Götter Griechenlands"


(nach Friedrich von Schiller)


Schöne Welt, wo bist du? Kehre wieder,
Holdes Blütenalter der Natur.
Ach nur in dem Feenland der Lieder
Lebt noch deine fabelhafte Spur.
Ausgestorben trauert das Gefilde
Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick.
Ach, von jenem lebenswarmen Bilde
Blieb der Schatten nur zurück.

 

(Als Hintergrund siehe “Meyers Konversationslexikon”, siehe oben)


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Letzte Station (Blick auf Kleinen Barmstein):


- "Agnus Dei" aus der "Kleinen Funkmesse" (siehe MP3 File zum Download)


Diese Livesendung aus dem Funkgerät ist jedesmal abenteuerlich und -nicht nur akustisch- riskant. Der Felsensänger ist auf dem etwa 1,5m breiten Gipfelgrat angeseilt: nach Bayern könnte er 100m tief stürzen, nach Österreich 200m. Er schaltet nun das Funkgerät, -welches etwa 2 Meter von ihm entfernt sein muss- durch eine improvisierte Vorrichtung auf Dauerbetrieb. Erst dann, am Seil gesichert, und deshalb in den Bewegungen stark eingeschränkt, kann er sich neu verkabeln. Auch die Noten und das schwere Sprachrohr müssen mit Seil und Karabiner gesichert sein. Oft ist es windig, das Stehen ist dann äußerst unangenehm. Es kann zum Singen eigentlich schon zu kalt sein, -die erste Grenze zur Beeinträchtigung liegt schon bei +12 Grad-, kann aber auch über 30 Grad Celsius haben und eine relative Luftfeuchtigkeit von 20%: Für die bevorstehende stimmliche Extremleistung wären dies dann mörderische Bedingungen. Er muss damit rechnen, dass ihm -völlig unvorhersehbar- plötzlich schwarz vor Augen wird, einfach aufgrund der Anstrengung in der jeweiligen Tagesverfassung. Es gibt aber auch noch andere Probleme, wie Blitzschlag -oder für das Singen auch sehr unangenehm: Insektenflug usw.


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